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Ein neues Gebiet der ästhetischen Wahrnehmung
Aus "Werk" (Architekturzeitschrift) Heft 2 (Februar) 1968 Winterthur


Das Dorf Avcilar in Kappadozien (Anatolien) ist besonders typisch für die pyramidalen Steine und die davor gebauten kubischen Häuser.
(Im Zuge einer Verwaltungsreform etwa Anfang der 90er Jahre erhielt das Dorf Avcilar den Ortsnamen "Göreme". Der Mittelpunkt im Tal von Göreme heißt nunmehr "Museumspark Göreme" und wurde von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.)
Die Zeitalter unterscheiden sich unter anderem durch die Ausdehnung des Feldes der Kultur. Für einige befindet sich das Wesen der Wirklichkeit in einer idealen Sphäre, die zur materiellen Welt fast keine Beziehung hat; andere beziehen Teile der Außenwelt in ihr Geistesleben ein und zielen auf ein Modell des Universums, bei welchem sich der Mensch in die Natur einfügt.

Die Beziehung zwischen der Kultur und der Landschaft ergeben einen guten Katalog dieser Verschiedenheit. Beispielsweise erstaunt bei den französischen Reisenden des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre Unempfänglichkeit gegenüber den Landschaften, die sie durchqueren: Ihre Anmerkungen, wenn sie überhaupt welche machen, sind kurz und technisch, ihr Wortschatz ausweichend; weder Montaigne noch de Brosses lassen sich über die Alpen aus oder über die Lombardei, denn sie interessieren sich nur für die Sitten.Es sieht so aus,
Erosionsformen aus härteren und weicheren Gesteinsmassen
als ob ihnen die Fähigkeit der Aufnahme fehlte, die notwendigen Instrumente der Beurteilung, denn ihre klassischen Vorbilder erlauben es nicht, die bloße Umwelt, sei sie geologisch oder v egetabil, zu schätzen. Wir müssen auf Rousseau warten und die Romantik, bis dass die Natur nicht mehr nur als menschliche Natur, sondern als Gesamtheit der äußeren Phänomene, unter Einschluss der atmosphärischen, zum Ort der Projektion der Gemütsbewegungen wird. Die Natur wird nur durch die menschliche Aktivität zur Landschaft - das gilt auch auf der subjektiven Ebene.

Die Wahrnehmung der Natur als Gegenstand geschieht durch diese Verinnerlichung, deren Mitteilung und Lektüre schließlich die Kulturwerdung der Landschaft erlauben. Ohne Zweifel müsste man bei dieser psychologischen Erweiterung beginnen, um zu einer anwendbaren Erkenntnis zu kommen. (Man kann sich sogar fragen, ob nicht das Fehlen einer solchen Erweiterung in der industriellen Welt den gesellschaftlichen Misserfolg des Design erklärt.) Emilio Sereni hat in bewundernswerter Weise die Höhepunkte der schönen Landschaft von Varro bis zu den toskanischen Malern des 15. Jahrhunderts sichtbar gemacht, während der Agronom Ridolfi gegen 1850 sein Programm der Bewirtschaftung der Hügel nach den Möglichkeiten des ländlichen Kapitalismus als einen Akt der ästhetischen Landschaftsgestaltung beschrieb1.

Auf die aktive (und überwuchernde) Landschaft der Romantik folgte eine umgekehrt gerichtete Zeit, welche die Natur in den Rang eines auszubeutenden Gegenübers rückte. Seit dieser Zeit bedeutet der Einbruch des Menschen in die Natur in immer steigendem Maße eine Katastrophe für die Ökologie unseres Planeten.

Weinreben und Ölbäume stehen zwischen den Felsnadeln und Bimssteinhängen auf jedem Quadratmeter Boden
Mit der wachsenden Abstraktion verlässt die Landschaft die Kunst; aber gleichzeitig kommt die Natur zur Kunst zurück in der Form der «gewachsenen» Kunst oder der natürlichen, unbearbeiteten Formen (Steine, Zweige, Zufälligkeiten), welche dadurch zum Kunstwerk erhoben werden, dass man sie von ihrer Umgebung trennt und mit den Strukturen menschlicher Werke in Beziehung setzt. Dabei handelt es sich nicht mehr um die Kuriositäten, von welchen die späten Römer und die barocken Duodezfürsten so begeistert waren (man denke an den «Dictionnaire des fossiles accidentels», den Casanova zitiert), sondern um eine neue Ausdehnung der ästhetischen Welt und um eine Vergrößerung der künstlerischen Aufnahmefähigkeit.

Weinreben und Ölbäume...(s.o.)
Diese Vorbemerkungen sind vielleicht notwendig, um den Geist und die Neuigkeit dessen zu verstehen, was uns Klaus Runze mit seinen Photographien vorlegt. Hier ist die Landschaft bewusst und systematisch als Kunstwerk verstanden; wir begeben uns auf eine neue Ebene, indem wir von den isolierten Fragmenten zu Gesamtheiten aufsteigen, welche ihrerseits bemerkenswerte Fragmente enthalten. Klaus Runze hat den Mut, über eine Gruppe von Phänomenen, die bis dahin der Geologie angehörten, das Netz der visuellen Perzeption zu stülpen und sie damit in eine Schöpfung des Menschen zu verwandeln. Durch die Augen von Runze gehören diese gestalthaften Naturdinge - Minarette, Raketen, Phallusse; diese Gussstücke, Bleiklumpen, zerknüllten Papiere; diese Arp, Haese, Mastroianni - nicht mehr in das Raritätenkabinett der Natur: Sie gehören in ein geordnetes System, in welchem Kunst und Natur nicht mehr als Gegensätze verstanden werden.

Man wird dem sogleich entgegenhalten, daß andere Landschaften ebenfalls spektakuläre Bilder liefern, das «National Geographic Magazine» ist voll davon ... Die Gegend von Göreme-Nevsehir bietet immerhin eine Überlagerung von Themen, die sie von allen auf den ersten Blick ähnlichen Gebieten scheidet. Sie ist nicht nur ein Märchengarten für die kläglichen Gullivers des American Express.
Härtere Gesteinsmassen, vulkanische Auswürfe, waren in den weichen Tuff eingeschlossen,
der allmählich hinwegschmilzt

Vom 7. bis zum 13. Jahrhundert haben byzantinische Mönche Hunderte ihrer Felsen angebohrt, um sie in Kirchen und Klöster zu verwandeln, wobei sie getreulich den Programmen und den architektonischen Formen der östlichen Kirche folgten2. Diese negative Architektur, Ziel touristischer Exkursionen, ist dennoch nur eine der Ebenen einer kollektiven Landschaftsgestaltung im Laufe der Zeiten, zu welcher die gegenwärtige türkische Bevölkerung den jüngsten Beitrag leistet. Die bestellten Felder vollenden das Bild durch die geometrischen Farbflecke der Kulturen, während die kubistischen Dörfer die Beständigkeit der Besiedelung aufzeigen. Wir sind nicht in einer Mondlandschaft oder in den Ruinen einer abgeschlossenen Vergangenheit.

Bisher hat sich das Interesse auf die Fresken und die Kapellen konzentriert, welche ein Zusatz zur Fremdheit dieser Umwelt sind; niemand hatte bisher auf die heutigen Bewohner geachtet, und erst recht hat niemand die drei Komponenten der Landschaft als eine notwendige Einheit verstanden. Die Geologie Kappadoziens zeigt «Kunst ohne Künstler» und «serielle Abwandlungen».

Im zweiten Fall beruht das Außerordentliche auf der Kombination weicher, fortlaufender Oberflächen, die von Poelzig oder dem frühen Mendelsohn modelliert sein könnten, mit den, trotz der Zufälligkeit der Durchstiche, doch geometrischen Absichten der Mönche - in anderen Worten, auf der fehlenden Übereinstimmung zwischen der Hülle und den Innenräumen. Es ist im übrigen ungenau, von Umhüllung zu sprechen! Die inneren Gänge, die frei in die Felsmasse verteilt sind, erinnern an die Ganglien unserer Bergfestungen: innengerichtete Architektur, welche in den Überfluss des Berges gebohrt ist, dessen Druck sie überall spürt.

Im ersten Falle, bei weitem der häufigere, haben die Kräfte der Erosion Gebilde geschaffen, welche einem regelmäßigen Muster zu folgen scheinen, bei welchem Klaus Runze den verblüffenden Aspekt eines zugleich vollendeten und alles Maß übersteigenden Objektes unterstreicht. Die Betonung liegt hier auf der Landschaft als plastischem Phänomen, und der Photograph hat eine Reihe von Beispielen gewählt und sie so behandelt, als wären sie Skulpturen. Er geht um sie herum, er begreift sie in ihren Gruppenbeziehungen und in ihrem Verhältnis zur Umgebung, zeigt sie unter verschiedenen Gesichtswinkeln verteilt Gewicht und Gegengewicht, zeigt verschiedene Beleuchtungen und schließlich Details. Die Wirkungen des Maßstabs, die zufälligen Gruppierungen von surrealistischer Lyrik, wechseln ab mit kolossalen freistehenden Massen, mit Serien ähnlicher Formen, mit ausgezacktem Gewölbe von Leerräumen.

Roger Caillois3, der Sammler der Launen der Natur, unterscheidet vier Typen ihrer Formenentstehung: den Zufall, das Wachstum, das Projekt und den Guss, von welchen dennoch hier keiner passt. Es handelt sich nicht um Zufall, denn wir haben Ordnung, Symmetrie, Repetition und Rhythmus vor uns; noch von Wachstum, denn die Entwicklung hat die ursprüngliche Form nicht respektiert; noch von Projekt, denn es gab keine Absicht oder bewusste Aktion eines Lebewesens; noch von Guss, denn es ist keine zweite und maschinell entstandene Form. Der Abdruck scheint aus dem Inneren zu kommen Die hier gezeigten Photographien geben nur eine Kostprobe. Sie sollen mit anderen zusammen zu einem Bande vereinigt werden, welcher den Gang der Besichtigung folgt und damit ein Instrument der Kenntnisnahme bildet, welches eine Absicht und eine Gegebenheit in Parallele setzt.

Felsenkapellen im Tal von Göreme, zum Teil mit rotbraunen, nicht figürlichen Malereien
- z.B. in der sogenannten Barbara-Kirche -,
welche der negativen Architektur den Anschein einer gebauten Struktur geben (8. bis 9. Jahrhundert)





Zum Abschluss: Detail der Felswand von Cavusin (siehe zuvor)

Anmerkungen:

1 Emilio Sereni: «Storia del paesaggio agrario Italiano», Ban 1961.

2 Zu den etwa 365 Heiligtümern, welche Guillaume de Jerphanion entdeckt hatte («Une nouvelle province de l'art byzantin: les eglises rupestres de Cappadoce», Paris 1925-1942), kamen seither viele weitere hinzu; neuestens auch mehrere unterirdische Städte, deren eine, von 6 km2 Ausdehnung, 60000 Personen beherbergen könnte...

3 Roger Caillois: «Esthétique généralisée», Paris 1962, 511ff.