Stellvertretend für die pädagogischen Aktivitäten,
verbunden mit publizistischerTätigkeit, stehe hier "Erfahrung und Verwirklichung",
ein Vortrag auf dem Symposium "Elementare musikalische Bildung".
Textausschnitte aus der Publikation, Wien 1993/97

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KLAUS RUNZE

Erfahrung und Verwirklichung.

Die Bedeutung von Improvisation für einen komplexen Unterricht am Instrument

Wenn ich zu den Fragen einer elementaren Erziehung in der Musik das Wortpaar "Erfahrung - Verwirklichung" in den Raum stelle, so ist damit die ganze Spannweite eines Lebens mit Musik, eines "Lebens in Musik" umschrieben: Erfahrung ist Voraussetzung dafür, daß Verwirklichung stattfinden kann. Wenn im Bereich der Musik keine Erfahrung vorausgegangen ist, ist Verwirklichung im eigentlichen Sinne - nämlich Verwirklichung in Musik zu finden - letzthin nicht möglich.

Indem nun mit dem Begriffspaar "Komplexer Unterricht - am Instrument" das Ziel dieses Bereichs der Musikpädagogik bestimmt wird, so ist damit eine allgemeine Forderung an den Instrumentalunterricht angedeutet: ohne Komplexität in musikalischer Hinsicht steht die Ausbildung zum Instrumentalspiel nicht im Dienste dieser "Verwirklichung in Musik".

Mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Improvisation wird die Folgerung zum Ausdruck gebracht, daß Erfahrung als Voraussetzung von Verwirklichung nur über die Unmittelbarkeit des Erlebens erreicht werden kann - Improvisation ist damit als Form, in der diese Unmittelbarkeit zu gewährleisten ist, angesprochen.

Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile:

1. Statement Klavier - Gedanken zur heutigen Situation

2. Das Klavier als Spielfeld - Beispiele aus der Arbeit mit Kindern

3. Epilog - Improvisation als Vorgehensweise



1. Statement Klavier - Gedanken zur heutigen Situation

Anhand einiger mir wichtig erscheinender Fragestellungen werde ich charakterisieren, wie die Herausforderungen unserer modernen Welt auch vom traditionsreichen Instrument Klavier her angenommen werden können. Im Versuch einer Beantwortung dieser Fragestellungen werde ich umreißen, wie diesen Herausforderungen zu begegnen ist, wie wir sie einlösen können.

a) In welcher Form kann das Klavier helfen, musikalische Grundtatsachen zu vermitteln?

b) Ist das Klavier geeignet, musikalische Kommunikationsfähigkeit zu schulen - eine Fähigkeit, die für die Ausübung von Musik von entscheidender Bedeutung ist?

c) Wie kann dieses Instrument - ein typisches Ergebnis der Entwicklung im 19. Jahrhundert - für eine zeitgemäße Musikerziehung im Übergang zum 21.Jahrhundert eingesetzt werden?

d) Wie kann die Klangsprache unserer Zeit über das Verständnis historischer Überlieferungen hinaus in die Bemühungen der Musikerziehung für das vorschulische Alter miteinbezogen werden?

zu a) In welcher Form kann das Klavier helfen, musikalische Grundtatsachen zu vermitteln?

Es gilt in der Musikerziehung, die Grundtatsachen der Musik - ihre elementaren Fakten oder Bausteine - in gezielter, einprägsamer Art und Weise zu vermitteln:

Tonhöhe, Tonfolge, Zusammenklang, Lautstärke, den Vorgang der Tonerzeugung. Darüberhinaus gilt es, übergeordnete Zusammenhänge und Spannungsverhältnisse wie z. B. Melodiebögen, rhythmische Strukturen, Dissonanzgrade erfahrbar zu machen, vom Hören her erfassen zu lassen.

Das Klavier ist in besonderem Maße geeignet, hier durch seine Komplexität eine entscheidende Rolle zu übernehmen, vor allem in der elementaren Musikerziehung. Direktheit, Körperlichkeit sind die Charakteristika der Beziehung, die mühelos und effektiv zwischen einem Kind und dem Instrument Klavier als einem "akustischen Möbel" hergestellt werden können, wenn entsprechende Arbeitsinhalte in den Vordergrund gestellt werden.

zu b) Ist das Klavier geeignet, musikalische Kommunikationsfähigkeit zu schulen

- eine Fähigkeit, die für die Ausübung von Musik von entscheidender Bedeutung ist?

Musik ist ihrer Eigenschaft nach das Kommunikationsmittel schlechthin. Sie liegt in der mentalen Entwicklung des Menschen gleichsam vor der Entwicklung der Sprache, weist aber auch über diese hinaus, kommt sozusagen "nach der Sprache", liegt gleichsam "hinter ihr". Dies bedeutet, daß Musik nicht ohne Kommunikation denkbar ist daß sie aber gleichzeitig das Kommunikationsvermögen zu schulen imstande ist.

Es ist ein großes Verhängnis der Entwicklung des Klavierspiels und der Klavierpädagogik, daß dieser Gesichtspunkt von einem anderen Aspekt verdrängt wurde:

daß das Klavier ein typisches Instrument der Vereinzelung sein kann - daß das Image des Klavierspielens vornehmlich darin liegt, daß es isoliert geschieht: das Instrument allein, der Spieler allein - und ob da diese beiden gut aufeinander zugehen können, ist ja dann doch die Frage.

Demgegenüber ist die Einsicht von besonderem Gewicht, daß sich das Klavier in hervorstechendem Maße dazu eignet, im Bereich der elementaren Musikerziehung geradezu als Kommunikationsgerät zu fungieren. Die Möglichkeiten, im primären Ansatz einer offen angelegten Musikerziehung das Klavier im improvisierenden Spiel für das Sammeln von Klangerfahrungen einzusetzen, sind ungewöhnlich groß. Hier liegt ein noch wenig genutztes Arbeitsfeld für die Musikerziehung.

zu c) Wie kann dieses Instrument - ein typisches Ergebnis der Entwicklung im 19. Jahrhundert - für eine zeitgemäße Musikerziehung im Übergang zum 21. Jahrhundert eingesetzt werden?

Die Musikerziehung der heutigen Zeit steht im Sog derjenigen Dinge, die für unser Leben von bestimmendem Einfluß geworden sind. Im großen gesehen kann man hier zu den technologischen und zu den politischen Entwicklungen, in denen wir stehen, Parallelen ziehen: Die Möglichkeiten der Elektronik ebenso wie die Notwendigkeit zu Offenheit und Flexibilität kennzeichnen die Situation der Musikpädagogik, wie sie sich uns heute darstellt.

Hier liegen die außergewöhnlichen Chancen einer Musikerziehung am Klavier, mit Hilfe des Klaviers. Insbesondere der Aspekt einer durch Aufgeschlossenheit gekennzeichneten Arbeitssituation macht es möglich, die ganze Bandbreite musikalischer Erfahrung, wie sich diese im 20. Jahrhundert angesammelt hat, zu berücksichtigen:

Klangphänomene der Folklore und der außereuropäischen Musik ebenso wie Fakten der klassischen Überlieferung in die Überlegungen zu didaktischem Vorgehen einzubeziehen. Gerade vom Klavier her ist es möglich, dem Anspruch eines qualifizierten Pluralismus, der heute zu Recht besteht, zu genügen.

zu d) Wie kann die Klangsprache unserer Zeit über das Verständnis historischer Überlieferungen hinaus in die Bemühungen der Musikerziehung für das vorschulische Alter miteinbezogen werden?

Erziehung zur Musik muß in jedem Falle bedeuten, daß der Akzent auf der Vermittlung derjenigen Musik liegt, die in der Zeit, in der der Lernende (also auch das Kind) lebt, "gemacht" wird, also "zeitgemäß" ist.

Dies ist auch in denjenigen Epochen der Musikgeschichte' die bis heute eine große Bedeutung für unser Musikleben haben - die Zeit des Barock, der Klassik, der Romantik - so gewesen. Die Überlieferungen aus der Kindheit der ganz großen Namen - es sei mir erspart, hier die Namen zu nennen - sind ein Beispiel dafür.

Es ist ein großes Mißverständnis, wenn gemeint wird, daß die Vermittlung von Musik an Kinder die Vermittlung historisch gegebener Normen und Wertvorstellungen zum Hauptinhalt bzw. auch zum Ausgangspunkt haben müsse. Die Beschaffenheit und Eigenschaft des Klaviers stellen ein ungewöhnliches Potential dar, hier gemessene Formen der Vermittlung zu finden: Das Klavier als Instrument bietet hervorragende Möglichkeiten, diejenigen Phänomene der Musik, die für das 20. Jahrhundert bestimmend geworden sind, im Ansatz zu berücksichtigen. Als Beispiele hierfür seien an dieser Stelle genannt: Einbeziehung des Phänomens der Obertöne - also der Resonanz -, gezielte und differenzierte Anwendung des Clusters, extreme Unterschiede der Tonhöhe und der Dynamik.



2. Das Klavier als Spielfeld - Beispiele aus der Arbeit mit Kindern

In dem nun folgenden Teil werde ich anhand einer Bilderfolge demonstrieren, in welcher Form das Instrument Klavier den Rahmen für eine Elementare Musikalische Erziehung bilden kann, welche beidem gerecht wird - eine übergreifende Erfahrung musikalischer Phänomene zu vermitteln und eine Grundlage für das Instrumentalspiel zu bilden.

Für diesen Zweck habe ich aus den vielen Situationen mit Kindern, von denen ich fotografische Dokumentationen gesammelt habe - Unterricht, Workshop, Konzertveranstaltung - eine lockere Folge von Beispielen nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengestellt.

Wenn auch keine Kontinuität, was die beteiligten Kinder, und auch, was die Auswahl aus den Jahren meiner Arbeit betrifft, vorliegt, so möchte ich doch versuchen, diese Folge von Beispielen wie einen Film ablaufen zu lassen.

Die hier gezeigten Inhalte bilden einen kleinen Ausschnitt aus der Fülle von Möglichkeiten, die sich im Sinne der Thematik anbieten. Sie entstammen hauptsächlich der Arbeit an den Musikschulen im Köln-Bonner Raum, wo ich in den Siebziger Jahren Gelegenheit hatte, meine Ideen in gesteigertem Maße umzusetzen, außerdem von der Veranstaltungsserie "Kinder und Künste", die im Frühjahr 1972 von der Akademie der Künste in Berlin durchgeführt wurde, sowie von Arbeitsstunden mit Kindern in Japan in den Achtziger Jahren.

Die Übertragung der inhaltlichen Fragestellungen von der Alters stufe vor Schulbeginn auf die Altersstufe der ersten Schuljahre, wie dies aus meiner Dokumentationsfolge sichtbar wird, entspricht der Einsicht, daß die Grenzen dessen, was im Sinne der musikalischen Erfahrung als "elementar" anzusehen ist, nicht abzustecken sind.

Die hier ausgewählten Fotos, die - wenn nicht anders angegeben - aus meinem Archiv stammen, sind nicht nach technischer Bildqualität zusammengestellt. So bitte ich manche Unvollkommenheit, die sich aus der Live-Situation - die in jedem Fall gegeben war - erklärt, zu entschuldigen.



Neugier und Erwartung

Beispiel für das Zusammenwirken des taktilen Erlebens mit dem aufmerksamen Beobachten und Hinhorchen während einer primären Begegnung mit dem Klavier bei drei- bis vierjährigen Kindern.

Fotos: Elke Nord, Berlin

Das Kind, das auf den Zehenspitzen stehen muß, wenn es mit den Fingern die Tasten des Klaviers ertasten möchte, bettet sich genüß1ich in dem weichen Klang seiner gerundeten Hand.


"Hand ans Pedal!"

Beispiel für die Aktionsfreudigkeit im Arbeiten mit einer Gruppe fünfjähriger Kinder: Während des Erklingens der Töne durch Spiel der Tasten horcht der "Mitspieler" am rechten Pedal des großen Flügels auf die Veränderungen im Klang.

Wie klingt das nur? Das Kind "horcht mit den Augen" auf das, was "da oben" geschieht Aufmerksamkeit und Energie finden sich in der Ewigkeit, die nur kurze Zeit anhält.



Da raunt's in der Kiste

Beispiel für die vielfältigen Möglichkeiten, Kommunikationsspiele am geschlossenen Flügel durchzuführen: Weiterreichen von rhythmischen Signalen (Assoziation "Stille Post"), Frage-und-Antwort-Spiele, Vereinbarungen über dynamische Entwicklungen, Überraschungsspiele mit dem Treten des rechten Pedals.

Da raunt's in der Kiste, wenn wir die Augen schließen und uns gegenseitig mit den Handflächen auf der ganz großen Spiegelplatte zu erkennen geben. Es ist besonders spannend, wenn es viele lange Pausen gibt.



Und wie fühlt sich das an?

Beispiel dafür, daß in einem auf die Komplexität der klanglichen Erfahrung gerichteten Vorgehen die Berührung der Saiten zum Gegenstand gezielter Aufgabenstellung gemacht wird: Während diese durch das Spielen der Tasten in Schwingung gebracht werden, registriert der Tastsinn die Stärke und den Charakter des Klingens. In der Verbindung von Tastsinn und Gehör wird die Wahrnehmung der Klangqualität intensiviert.

Wenn da auf den Tasten des Instruments gespielt wird, dringt die Schwingung der Saiten auch durch die feinen Seidentücher hindurch als ob wir an den Handinnenflächen Ohren hätten, eine Membrane des Tastsinns!



Im Tutti gestreichelt...

Beispiel für den gezielten Einsatz des Tastsinns zur Schulung der Tonbildung, auch bei dem so mechanischen Instrument Klavier.

Die hohe Sensibilität der Handinnenfläche wird eingesetzt, um den größtmöglichen Kontakt zur Tastatur zu erreichen: Die Finger finden z.T. mühelos zwischen den schwarzen Tasten ihren Platz, wenn der Tiefgang der Taste erprobt wird. Hierbei gilt die Vereinbarung, daß kein Ton zum Klingen kommt. Mit Spannung und Aufmerksamkeit beobachtet der Blick, wie sich die Hämmerchen auf die Saiten zubewegen; werden dennoch Saiten von einem Hammer berührt, der einen zarten Ton hörbar werden läßt, so heißt es: Vorsicht, noch nicht!



...und zugepackt

Abwarten wie lange noch? Nun geht's in das Instrument hinein - da klingen fast alle Töne, als ob wir in die Saiten hineingegriffen hätten.

Aus dem Haften an den Tasten - auch so, daß die schwarzen Tasten seitlich bewußt gefühlt werden, wird das ganze Instrument zum Klingen gebracht. Die Kinder erleben, wie nun viele Hämmerchen an die Saiten schlagen und diese zum Erklingen bringen - nachdem sie aus dem Fingerspitzengefühl heraus ordentlich zugepackt haben.



Ob's der Urknall war?

Beispiel für die emotionale Intensität, mit der ein Kind den Klang in sich aufnimmt, den es im Zugriff hat kommen lassen: Im Gesichtsausdruck findet sich die gebündelte Kraft der Töne.

Er hat es erfahren - und mit geschlossenen Augen horcht er so lange, wie es nur geht.



Und nun sich beschnuppern

Beispiel für die Aktionsfreude, mit der das Kind die Begegnung ausspielt, zu der es auf dem Spielfeld der Tastatur gekommen ist: Dialog mit Worten, Gesten, Tönen.

Da kommen zwei aufeinander zu -und erfinden Geschichten. Das Kind erlebt die Handlungsabläufe in Klängen. Die Klänge, die es da findet, führen seine Fantasie zu neuen Inhalten, die wieder in andere Klänge umgesetzt werden.



Die Elefantenherde kommt

Beispiel für ein theatralisches Zwischenspiel bei einer Schüleraufführung: Beim Spiel der behutsamen Cluster der Handflächen - von mehreren Kindern "im Gehen" gespielt - wird das Räumliche der Tastaturen der Klaviere mit der Assoziation des elastischen Gangs der Elefanten verknüpft.

Sachten Schrittes zieh'n die großen Tiere mit den weichen Sohlen an den Tastaturen entlang. Im "blinden Spielen" versuchen die Kinder in maskenhaft verhüllende Gewänder gekleidet , sich im Dunkeln durch die Klänge zu orientieren.



Schleier, die sich lüften

Beispiel für eine Vorstellungshilfe, mit der das differenzierte Spiel der Finger gesteuert wird: Verkleidung und Verschleierung die Kinder tragen selbstgebastelte Schneckengehäuse als Hüte, darunter seidene Tücher als Aufforderung zur gesteigerten Entwicklung des Fingerspitzengefühls im Spiel der Tasten.

In wallende Tücher gehüllt und dann auch unverhüllt bewegen sich die Finger der Kinder in ihrem vorgezeichneten chromatischen Gang,

wie von den Tentakeln der Schnecke geführt.

Langsamkeit, Koordination und Vorsicht als Übung der Gemeinsamkeit in der Musik.



Begegnung am Fluß

Beispiel für die Einbindung des Klavierspiels in übergeordnete Zusammenhänge:

Aus pädagogischen Erwägungen wird der Rahmen des Instrumentalspiels erweitert. Anläßlich einer Veranstaltung mit Klavierschülern wurde eine Szenerie entwickelt, in deren Mittelpunkt eine Bildrolle von 15 Metern Länge stand. Auf ihr war ein großer Strom - der Rhein - mit seinen beiden Ufern dargestellt. Über die in der Mitte des Raumes aufgestellten zwei Klaviere gehängt, diente diese Bildrolle der Imagination, aus der heraus das Spiel an den zwei Instrumenten improvisatorisch gestaltet wurde - unterstützt von den theatralischen, von den beteiligten Kindern gebastelten Elementen Maskierung und Stockpuppe.

Szenenfolge von der Rückseite der beiden Klaviere: Die Stockpuppen von zwei Papageien werden so geführt, daß die zwei Kinder, die an den Tastaturen stehen, die Papageienrufe über den großen Strom hinweg spielen: rhythmische Impulse, Rufe, melodische Signale.

Das Band des großen Stroms - von vielen Kindern gemalt und zusammengeklebt - hängt zwischen den Spielfeldern der zwei Klaviere.

Der improvisatorisch entwickelte Spielablauf findet seinen Höhepunkt in einer Szene, in der die Zebras an beiden Ufern von Stockpuppen hinter den beiden Klavieren dargestellt - vor den nahenden Raubkatzen fliehen; diese werden von zwei Kindern mit entsprechenden Perücken, am Diskant des linken und am Baß des rechten Instruments stehend, dargestellt. Während diese im Spiel an den Tasten eine Abwarteposition einnehmen, wird von den zwei anderen Kindern, die an den Tastaturen stehen, das Davonrennen der Zebras im Klavierspiel improvisatorisch umgesetzt.



Die Story von der Schildkröte und der Schlange

Beispiel für die komplexe ästhetische Disposition, die bei einer entsprechend offenen Vorgehensweise im Instrumentalunterricht in der Fantasie eines Kindes Gestalt annehmen kann: Aus der Anregung heraus, einen freien Verlauf skalenähnlicher Spielfolgen am Klavier mit der Assoziation einer sich schlängelnden Schlange und - für die pianistische Grundform der gerundeten Hand - einer Schildkröte zu verknüpfen, wurde von dem Kind folgendes entwickelt:

- Erstellung einer Grafik, die den Charakter der unendlichen Skalenmelodie wiedergibt.

- Abfassung einer kleinen Story, die als Vorlage für die szenische Umsetzung dient.

- Spiel nach inhaltlichem Konzept, in improvisatorischer Abwandlung der beiden Grundgedanken: Eine Hand stellt die Schildkröte dar, die andere Hand die Schlange.

Bei der Darbietung im Veranstaltungsrahmen (Requisiten und Handführung der Stockpuppen: Eltern, Lehrer) wurde die angesprochene komplexe ästhetische Disposition deutlich (Textlesung: Schüler).

Die Story, die der Klavierspieler geschrieben hat, wird von einem anderen Kind vorgelesen:

Eine Schildkröte liegt friedlich in der Sonne. In der Nähe schleicht eine Schlange. Sie hat Hunger und sucht eine Beute. Ob sie das große Schildkrötentier fressen kann? Vorsichtig nähert sie sich. Sie kommt näher, immer näher Aber die Schildkröte bleibt ruhig liegen. Die Schlange ringelt sich über den dicken Panzer sie kriecht über die Schildkröte hinweg. Das war wohl nichts zum Fressen.

Die Schlange nähert sich der großen Schildkröte

Während die Schlange noch über die große Schildkröte klettert -Handführung von der Rückseite des Klaviers her - spielt der Klavierspieler seine Grafik, die er zum skalenähnlichen Weg der sich schlängelnden Schlange angefertigt hat.



Der lang gesungene Ton wird gemalt...

Beispiel für die Bemühung, dem Kind das Klingen eines Tones über die Energie der gestischen Bewegung in gezielter Form erlebbar zu machen: Das Hören des Tones wird auf die Körperaktion übertragen, die ihrerseits zu einem visuell erfahrbaren Ereignis führt. Körperliches Spannungserleben führt hier im Ansatz zur Entstehung der Schrift.

Zwei Kinder erleben mit breiten Stiften in der Hand, wie der von vielen singenden Stimmen lange und breit durchgehaltene Ton klingt:

Handführung und Gehör übertragen den Vorgang auf die sichtbare Fläche.



...und steigt leibhaftig hinter dem Klavier hervor

Beispiel für die demonstrative Kombination der Ebenen der Erfahrung: Während die von Kindern gemalte Grafik einer Melodie, die durch besonders lange Schlußtöne ihrer kleinen Abschnitte gekennzeichnet ist, als Schrifttafel auf dem links stehenden Klavier erscheint, wird diese Melodie am rechts stehenden Klavier gespielt und gleichzeitig von einer Kindergruppe gesungen. Bei den lang anhaltenden Tönen, wenn gleichzeitig der Stockpuppenkopf hinter dem rechten Klavier erscheint, ziehen die Kinder mit Kreide in der Hand den "klingenden Ton" auf der zwischen den Instrumenten aufgestellten Tafel nach.

Die beiden Kinder malen nun mit, wenn die Melodie, die wie eine Stockpuppen-Kulisse hinter dem Klavier aufgetaucht ist, bei den lang klingenden Tönen verweilt.



Gemalt, gesungen, gezeigt, gespielt

Beispiel für die Zielsetzung, dem lernenden Kind das Eingebundensein des Klavierspiels in übergeordnete musikalische Zusammenhänge von Anbeginn an zu vermitteln: Der fünfjährige Schüler hat ein Lied, bestehend aus den Tönen einer Quinte, erfunden und in großzügiger Form grafisch notiert. Er spielt es nun für die anderen Kinder, die es im Chor singen.

Das Kind spielt die große Grafik, mit der es die von ihm gefundene Melodie festgehalten hat. Der "Dirigenten-Chor" der anderen Kinder assistiert ihm dabei.

Beispiel für eine Vorgehensweise, bei der die Gruppensituation als Unterrichtsform mit der Verwendung neuer technischer Möglichkeiten einhergeht: Das Schriftbild grafischer Notation wird über Tageslicht-Projektor auf der Leinwand sichtbar, ein Kind spielt die Tonfolge am Klavier, weitere Kinder gehen der melodischen Linie in der Handführung nach.

Klavierspiel, grafische Linienführung und das Zeigen des Tonhöhenverlaufs werden im Bild der Workshopsituation wiedergegeben, in dem gleichzeitig die optimal lockere Haltung beim Spielen im Stehen bei entsprechender Körpergröße deutlich wird.

Klänge, die da hallen...

Beispiel für ein differenziertes Cluster- und Glissando-Spiel: Klangbilder des Meeres entstehen, von Unterarmen und Händen in vielen dynamischen Stufungen bis hin zum Pianissimo - gestaltet. Die Geschmeidigkeit in der Bewegung und das Horchen auf die sich wandelnden Klänge beflügeln die Fantasie.

Die Welle steigt, die Welle fällt. Die Hände - im Gewand mit zugenähten Ärmeln versteckt - spielen die Flut, spielen das Abebben. Die Wogen der Klänge füllen den Raum.



...und verweilen wollen

Beispiel für die Steigerung der Spielfähigkeit durch die Identifikation, die sich ein Kind schafft: Die Beachtung der gestalterischen Momente bei der Musikausübung

- Dynamik, Artikulation, Dauer des Klingens und Spannung der Pause -spiegeln sich in Haltung und Ausdruck.

Das Kind erfindet die Geschichte vom Spinnenschloß; es malt sie, es erzählt sie, es spielt sie am Klavier. Es sind die Töne, die haften bleiben, die stehen, die die Begierde zeigen, den Genuß - die Lust, mit Tönen zu spielen, sie sich anzueignen, sie von sich zu geben.

Foto: Karin Gaa, Berlin



Mit Ohr und Stimme ganz dabei

Beispiel für eine Workshop-Situation, in der das Spielen am Klavier mit dem Singen und mit dem Dirigieren eines der beteiligten Kinder die wünschenswerte Einheit musikalischen Erlebens bildet.

Eine Einheit mit dem an der Sache beteiligten Publikum, wie sie hier im Bild deutlich wird, entspricht der Grundforderung heutigen musikpädagogischen Bemühens:

Isolierung zu durchbrechen, Teilhabe und Durchlässigkeit möglich zu machen, zu schaffen.

Die Chance des Klavierinstruments wird deutlich, wenn Kinder an ihm Musik erfahren und sich mit ihm in der Musik verwirklichen.

Das Bild zeigt die Situation einer Veranstaltung, in der das Singen, Dirigieren und Spielen gleichermaßen den Inhalt des Erlebens bilden.

Foto: Karin Gaa, Berlin



Dem Instrument zugeneigt

Beispiel für die pädagogische Maxime, die Faktoren Übung; Leistung und Ergebnis in Übereinstimmung zu bringen - eine Gratwanderung, die der Erfüllung einer Utopie gleichkommt: Das Bild gibt eine Situation wieder, in der das Kind eine Leistung vollbringt, die den Teilhabenden dieser Veranstaltung als Ergebnis vor Augen - also auch "zu Ohren" geführt wird, obwohl das offensichtliche Vertrautsein des Kindes mit dem großen Flügel gerade darin liegt, daß er "sich in Musik übt" - oder sollten wir sagen: daß er "Musik in sich, in sich selbst übt"?

Diese kleine gedankliche Reflexion mag als spezifischer Beitrag zum gestellten Thema "Erfahrung und Verwirklichung" den Abschluß dieser Bildsequenz bilden.

Die Natürlichkeit im Unerwarteten - der Schüler, der im Stehen eine Tonfolge im Handwechsel vor Publikum demonstriert, läßt uns ahnen: Er ist mit dem Instrument verwachsen, er ist mit den Zuhörern verbunden - und er wird von den Tönen, die er spielt, getragen.

Foto: Karin Gaa, Berlin



3. Epilog - Improvisation als Vorgehensweise

Aus dem Dargestellten wird ersichtlich: Die Bedeutung von Improvisation für einen komplexen Unterricht am Instrument ist nicht hoch genug einzuschätzen, geht es doch um die Erfahrung musikalischer Erscheinungsformen, die sich als Reflex im Inneren desjenigen, der die Erfahrung macht, abbilden - "abhören" müßte man sagen, "abhorchen". Sie finden sich als Abdruck im Ohr wieder, finden sich ein, nehmen Gestalt an.

Je unmittelbarer der Vorgang dieser Übertragung gewesen war, desto höher ist der Wert für die Wirklichkeit des Erlebens, eben für den Grad der "Verwirklichung in Musik" bei demjenigen, in dessen Innerem sich nun ein musikalisches Phänomen anschickt, Form anzunehmen.

Mit dieser Umschreibung möchte ich ganz einfach dafür plädieren, daß im pädagogischen Prozeß so wenig wie möglich vorgeprägt und so viel wie möglich als unvorhergesehen - eben "im-pro-visus" - akzeptiert sein sollte. Hierfür gilt es weniger, Regeln aufzustellen, als vielmehr die Bereitschaft dazu zu schulen: Bereitschaft zu Offenheit, Präsenz, Aufmerksamkeit, Beteiligtsein.

Wenn wir diese allgemeine Forderung nach Wachsamkeit auf die Situation einer elementaren Arbeitsweise am Klavier übertragen, so lassen sich dann doch einige Punkte anführen, die den Maßstab für ein vom Pädagogischen her wünschenswertes Verhalten von Lehrern und Schülern ausmachen:

- Die Dialoghaftigkeit im melodischen Spiel zweier Beteiligter an einem Instrument - wenn z. B. ein Spieler im Diskant etwas vorträgt und der andere Spieler im Baß darauf eingeht.

- Die Einbeziehung des Perkussiven in den musikalischen Gestaltungsprozeß, indem z. B. auch der Klavierdeckel zur rhythmischen, dynamischen Beteiligung und zur Differenzierung der Artikulation hinzugezogen wird - z B. bei der freien Umsetzung eines Accelerando oder eines Crescendo.

- Die Einbeziehung von Gestik und Sprache zur emotionalen Anregung und zum Abschätzen der Zeitverhältnisse - z.B. wenn es darum geht, Akzente oder Pausen zu verdeutlichen.

- Die Höhen und Tiefen der Töne in ihren Eigenheiten werden zum Anlaß genommen, Analogien oder Assoziationen zu entwickeln - z.B. wenn der Charakter von Naturerscheinungen klanglich dargestellt sein will.

- Die Strukturelemente der Musik werden gezielt als Ausdrucksträger persönlicher Klangvorstellungen eingesetzt - indem z.B. Intervalle oder Akkorde in bestimmter Weise zum Gegenstand instrumentaler Spieläußerungen gemacht werden.

- Das Horchen und Beobachten der Besonderheiten des Klavier-Instrumentes - auch im Hinblick auf Funktionen, die im Innenraum, an der "großen Harfe" wahrgenommen werden - wird zum Inhalt gestaltender Arbeit gemacht. Beispiel: Die Wechselwirkung von Resonanz und differenzierter Pedalbenutzung.

Es versteht sich, dass die Bedeutung von Improvisation für einen komplexen Unterricht am Instrument darin besteht, dass beides seine Ausprägung findet: Das Improvisatorische im engeren Sinne - auf die Töne und die musikalische Gestaltung bezogen - und das Improvisatorische im weiteren Sinne - auf das pädagogische Verhalten bezogen. So erhält der Unterricht am Klavier einen hohen Stellenwert im Rahmen einer "offenen" Musikerziehung.